Im Interview: Klaus Winger und Reiner Filla vom dvbs verraten, was es mit der neuen Plattform auf sich hat
von Vanessa Schäfer, Redakteurin kursfinder.de
Barrierefreiheit – ein Begriff, der im öffentlichen Raum immer bedeutender wird. Im virtuellen ist er vermutlich nur in Fachkreisen bekannt. Doch gerade für sehbehinderte und blinde Menschen sind barrierefrei zugängliche Webseiten und Apps notwendig, um sich im World Wide Web bewegen zu können. Sie werden sonst von wichtigen Informationsquellen ausgeschlossen. Dies gilt auch für die Suche nach beruflichen und anderen Weiterbildungen. Das weiß keiner besser als Klaus Winger.
Der Geschäftsführer des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (dvbs) ist hellhörig geworden, als in zahlreichen Beratungsgesprächen an ihn und sein Team herangetragen wurde, dass es kaum Unterstützung für blinde und sehbehinderte Erwerbstätige gibt, die sich beruflich verändern oder ihren Arbeitsplatz sichern wollen. Seminarangebote, Fähigkeits- und Qualifikationstests – für Menschen mit eingeschränktem oder ohne Sehvermögen nicht machbar. „Deshalb hielten wir es für sinnvoll, ein bundeszentrales Angebot für sehbeeinträchtigte Menschen zu schaffen, das den Bereich Weiterbildung, aber auch Personalentwicklung abdeckt“, erklärt er, wie es zur Weiterbildungsplattform Inklusive berufliche Bildung ohne Barrieren (iBoB) kam, die vor wenigen Wochen gelauncht wurde. Im Gespräch mit kursfinder.de gehen er und sein sehbehinderter Kollege Reiner Filla auf das neue Online-Angebot ein und erläutern, wieso Barrierefreiheit im Netz von zunehmend wichtigerer Bedeutung wird.
Herr Winger, wie muss man sich eine barrierefreie Webseite für blinde und sehbehinderte Menschen vorstellen? Wo liegen Unterschiede zu konventionellen Websites?
Klaus Winger: Versuchen Sie mal kursfinder.de nur mit der Tastatur zu bedienen. Es funktioniert nicht. Das ist einer der Unterschiede. Blinde Menschen können ja keine Maus nutzen. Das Zweite sind die Kontraste auf der Seite. Die sind auf barrierefreien Seiten deutlicher, besonders in den Nuancen. Farbkombinationen wie beispielsweise Grün und Gelb oder Rot und Grün kommen dabei grundsätzlich nie nebeneinander vor. Zudem steckt bei barrierefreien Seiten hinter jeder Grafik ein sogenannter Alternativtext. So kann ein blinder Nutzer mit einem Screenreader* einen Eindruck von der Grafik bekommen.
Eine barrierefreie Webseite ist in klar strukturiertem HTML erstellt, das Screenreader gut lesen können. Die gesamte Seite muss so programmiert sein, dass sie blinde Menschen mit Hilfsmitteln finden und ansteuern, sich vorlesen lassen können, per Audio aber auch auf der Braille-Tastatur. Das sind Tastaturen mit Punktsystemen, also Blindenschrift. Geübte Anwender haben die Fingerkuppen auf der Tastatur liegen und lesen so.
Für sehbehinderte Nutzer mit Restsehvermögen gibt es Vergrößerungen mithilfe spezieller, zumeist kostenpflichtiger Software, die separat installiert werden muss.
Herr Filla, Sie selbst haben eine Sehbehinderung. Waren Sie maßgeblich daran beteiligt, die iBoB-Weiterbildungsplattform zu entwickeln?
Reiner Filla: Das gesamte Projektteam, es sind blinde, sehbehinderte und sehende Kolleg*innen an Bord, hat von Anfang an Wert gelegt auf ein inklusives Design, also eine gute Nutzbarkeit für Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigung. Der Entwicklungsauftrag wurde nach Ausschreibung an eine Agentur für universelles Design gegeben, die auf die Entwicklung und Gestaltung von barrierefreien Webseiten spezialisiert ist, über entsprechende Expertise verfügt und gemäß unserer Vorgaben das endgültige Profil unserer Plattform entwickelt hat.
Klaus Winger: Es gibt feste Regeln, die im Behindertengleichstellungsgesetz festgehalten sind, die sogenannte Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV), an die sich Programmierer zu halten haben. Wenn man eine Webseite von Anfang an barrierefrei gestaltet, ist das kein allzu großer Mehraufwand.
Wie viele Kurse sind bei Ihnen auf der Plattform momentan gelistet?
Reiner Filla: Bisher etwas über 80, weitere 25 werden gerade vor ihrer endgültigen Freischaltung durch unser Team auf Barrierefreiheit überprüft. Ich versuche mühsam Bildungsanbieter aus der freien Wirtschaft zu gewinnen, die Seminarangebote haben, die von unserer Klientel nachgefragt werden. Da wir im letzten Jahr eine umfangreiche Bedarfsanalyse durchführten, wissen wir um die Bedarfe, in welchen Bereichen es eine konkrete Nachfrage gibt. Einiges davon können wir durch unser Angebot abdecken. Es ist jedoch schwierig, Kursanbieter zu finden, die bereit sind ihre Weiterbildungsangebote nach und nach im Sinne der Voraussetzungen für Barrierefreiheit umzugestalten. Schwerpunkt unserer Arbeit ist deshalb momentan tatsächlich sukzessive Anbieter durch gezielte Ansprache zu gewinnen.
Wie muss ein Kurs aufbereitet sein, damit er barrierefrei ist?
Reiner Filla: Im Prinzip sind es drei Schritte, die barrierefrei zu gestalten sind. Zum einen das Anmeldeverfahren, sei es schriftlich oder per Internet. Dann die Durchführung dieser Weiterbildungsmaßnahme inklusive barrierefreiem Schulungsmaterial und letztendlich die Prüfung. Wir haben im Projekt einen Anforderungskatalog entwickelt, in dem steht, was Voraussetzung ist, um als barrierefrei zu gelten. Unsere Expertinnen beraten und unterstützen Weiterbildungsanbieter dabei, ihre Kurse der Barrierefreiheit anzupassen.
Sie sprachen gerade von einer Bedarfsanalyse: Wo ist denn der Bedarf am größten?
Reiner Filla: An allererster Stelle steht der EDV-Bereich. Rund 80 % unserer Befragten gaben an: „Wir brauchen Weiterbildung im Bereich EDV und digitale Medien“. An zweiter Stelle kommt der Bereich Sozialkompetenz / Persönlichkeitsentwicklung, gefolgt vom Einsatz elektronischer Arbeitsmittel und Führungskompetenz (Projektmanagement, Mitarbeiterführung).
Gibt es bestimmte Kursformate, die Sehbehinderte und Blinde bevorzugen? Ist es angenehmer Seminare online zu besuchen oder spielen Präsenzkurse auch eine Rolle?
Reiner Filla: Die Blended-Learning-Methode ist sehr beliebt, da man eine Betreuung schätzt. Man macht den Kurs gerne von zu Hause aus, also in Form von E-Learning. Aber der persönliche Kontakt ist unserer Zielgruppe enorm wichtig, sich auszutauschen, auf der einen Seite mit dem Dozenten, auf der anderen Seite mit den Kollegen.
Klaus Winger: Ein stückweit hängt das vom Angebot ab. Es gibt auch Selbstmarketingtrainings. Die sind für blinde und sehbehinderte Teilnehmer nicht so einfach. Sie können ja nicht einfach in den Spiegel gucken und ihre eigene Mimik und Gestik beobachten. Das fängt beim Anziehen an und geht bis hin zum: Wie bewege ich mich in einem Bewerbungsgespräch? Was mache ich, wenn denn jemand sagt: Vor Ihnen auf dem Tisch steht der Kaffee? Wo ist genau „vor mir auf dem Tisch“? Und schon ist der Kaffee umgekippt. Das sind Situationen, die man trainieren kann, und zwar in Präsenzschulungen, anders geht das gar nicht. Etwa 80 % der Informationen, die wir als Sehende aufnehmen, sind visueller Art, das heißt, ein schier endloses YouTube-Videosammelsurium, wo Sie Mandarinen schälen lernen bis hin zum Zähneputzen, das gibt es für blinde Menschen nicht. Um mal die Dimensionen klar zu machen. Das ist eine drastische Einschränkung, mit der Sehbehinderte und Blinde leben müssen.
Sind bei sehbeeinträchtigten Menschen im Gegenzug nicht andere Dinge ausgeprägter, etwa der Konzentrationssinn?
Klaus Winger: Davon geht man aus. Das ist individuell unterschiedlich. Ziemlich durchgängig ist, dass Geburtsblinde ein extremes Erinnerungsvermögen haben. Wir haben Menschen im Verein, die, wenn sie einmal mit Unterstützung durch den Berliner Hauptbahnhof gegangen sind, das beim nächsten Mal problemlos allein können. Und wenn dann die Durchsage kommt: „Der Zug fährt heute nicht von Gleis 7, sondern von Gleis 9, dann kriegen sie das hin.“ Das geht nur, indem man sich bis ins Detail genau merkt, wie viele Stufen an welcher Stelle kommen, wo ein Briefkasten, Aschenbecher oder Automat ist etc. Insofern werden diese Komponenten des Gehirns wahnsinnig trainiert. Das ist für Sehende manchmal peinlich, die ein solches Erinnerungsvermögen nicht haben...
Gibt es noch einen weiteren schärferen Sinn?
Reiner Filla: Ich bin jetzt 62. Die zusehende Abschwächung der Sehkraft ging bei mir vor zehn Jahren los. Aber seither merke ich, dass ich viel sensibler mit meinem Gehör geworden bin. Ich merke das besonders, wenn ich draußen unterwegs bin. Beispiel: Ein Fahrradfahrer ist noch 30 Meter weg, meine Frau – sie ist vollsehend – kriegt überhaupt nichts mit und ich sage ihr schon: „Achtung, da kommt ein Fahrrad, wir müssen beiseite gehen.“ Es erfolgte bei mir eine enorme Schärfung des Hörvermögens.
Seit Kurzem ist Ihre Plattform online. Können Sie schon etwas zur Nachfrage sagen?
Reiner Filla: Die Weiterbildungsplattform ist seit dem 26. April online und funktionsfähig. Wir haben eine enorme Resonanz bezüglich des Orientierens auf der Webseite. Was kann sie? Was macht sie? Das sehen wir anhand der Klickraten, mit denen wir sehr zufrieden sind. Was Abschlüsse betrifft, können wir mit unseren etwas über 80 Angeboten noch nichts sagen. Da brauchen wir noch 200 obendrauf, so dass jeder das Passende für sich findet. Aber wir wissen, dass eine hohe Akzeptanz da ist, dass wir dieses Instrument geschaffen haben. Unsere Zielgruppe wartet auf weitere Angebote. Wir müssen die Weiterbildungsplattform jetzt weiter mit Leben füllen und mit der Vermarktung innerhalb unserer Zielgruppe voll durchstarten. Dies sind neben den Betroffenen natürlich auch Weiterbildungsanbieter, Sehbeeinträchtigte beschäftigende Arbeitgeber, Schwerbehindertenvertretungen usw. Durch umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit, Vorträge usw. Wir sensibilisieren zum Beispiel auch Integrationsfachdienste. Wir müssen die Bundesagentur für Arbeit „heiß machen“, so dass sie Betroffene an uns verweist. Die große Welle der Publizierung unserer Weiterbildungsplattform und -beratung beginnt jetzt.
Ist die Quote sehbehinderter und blinder Menschen, die nach Weiterbildung suchen, genauso hoch wie die Normalsehender oder aufgrund des bisher mangelnden barrierefreien Angebots geringer?
Reiner Filla: Wir in unserer Weiterbildungsberatung in Marburg bekommen, und zwar immer häufiger, konkrete Anfragen. Der Wunsch nach Weiterbildung ist da, unsere Zielgruppe ist sich der Notwendigkeit kontinuierlicher Bildung aufgrund sich veränderter Arbeitsmarktbedingungen – Stichwort Digitalisierung – bewusst. Und diese Personen freuen sich, dass so eine Weiterbildungsplattform endlich existiert, auch wenn sie noch nicht all das bietet, was sie bieten soll.
Klaus Winger: Das ist eines unserer Hauptprobleme: Wir müssen Anbieter finden, die Interesse haben und langfristig genug denken, um an den Markt zu gehen. In einer älterwerdenden Gesellschaft wird barrierefreie Weiterbildung eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Insgesamt gibt es in Deutschland circa 100.000 blinde und sehbehinderte Menschen im erwerbsfähigen Alter, das ist eine vergleichsweise kleine Zahl gegenüber der kursfinder-Zielgruppe. Für diese kleine Zielgruppe Marketing zu machen, ist gar nicht so einfach. Denn man muss sie ja erwischen. Viele sehbehinderte Leute definieren sich gar nicht als blind. Sie wollen wie Sehende leben und behandelt werden. Deswegen sind wir dran, die Reha-Sachbearbeiter, besonders der Rentenversicherung bzw. der Berufsgenossenschaft, also Unfallkassen und auch der Arbeitsagenturen, anzusprechen und zu sagen: „Wenn zu euch Leute kommen, die mit 41 Jahren sagen, dass sie ihren Job nicht mehr machen können, weil sie nicht mehr genug sehen, dann verrentet sie nicht, sondern versucht mit Unterstützung, Weiterbildung und unseren sonstigen Angeboten neue Chancen für sie zu finden. Bietet z.B. die Förderung passgenauer Weiterbildungen an. Frühverrentung ist bisher leider die geübte Praxis, weil denen nichts einfällt, was man mit den sehbeeinträchtigten Leuten noch machen kann, und selbst den Betroffenen manchmal auch nicht. Diese sind in einer psychisch absolut schlimmen Lage: Wenn sie auf einmal ihre Sehkraft verlieren, dann suchen sie nicht gleich nach neuen Ufern. Erstmal sind sie verzweifelt. Dabei kann man heute sehr viele Berufe als blinder und sehbehinderter Mensch ausüben – viel mehr als früher, als es all die Hilfsmittel, insbesondere die digitalen, noch nicht gab.
Wie sind denn die Reaktionen, wenn Sie versuchen, Kursanbieter zu akquirieren, gerade aus der freien Wirtschaft?
Reiner Filla: Im Moment stoßen wir bei einigen wenigen durchaus auf Interesse. Sie wollen exemplarisch mal damit anfangen, ein oder zwei Angebote barrierefrei zu gestalten. Es gibt aber auch viele, die von vornherein sagen: „Lohnt sich nicht für uns.” Das ist etwa bei 75 % der Anbieter der Fall. Aber im Vergleich zu letztem Jahr, als ich begonnen habe zu akquirieren, hat sich was getan. Anbieter, die ich dieses Jahr erneut angegangen bin, habe ich begeistern können, sich zumindest mal mit dem Thema auseinander zu setzen. Das heißt nicht, dass sie übermorgen zwei, drei ihrer Bildungsangebote auf unserer Plattform platzieren werden. Aber sie fragen: „Was müssen wir denn tun? Was bedeutet das: barrierefrei?” Zwei unserer Mitarbeiterinnen beraten diese Unternehmen und begleiten sie bei der Gestaltung eines barrierefreien Weiterbildungsangebots. Wobei wir gleichzeitig wissen: Die Umgestaltung eines konkreten Angebotes braucht durchaus mal ein halbes oder dreiviertel Jahr.
Zu den Personen
Reiner Filla
- Reiner Filla ist gelernter Industriekaufmann und Diplom-Betriebswirt.
- Der 62-Jährige arbeitete in verschiedenen Bereichen, etwa in der Getränkeindustrie als Assistenz des Finanzchefs und als Projektmanager in der Nahrungsmittelergänzungsindustrie. Er betreute mehrere Jahre lang als kaufmännischer Leiter einen Augenoptikerfilalisten und wechselte in den 90er Jahren ins Unternehmens- und Personalberatungsgeschäft.
- 2003 machte er sich selbstständig, musste jedoch vor drei Jahren seine Selbstständigkeit wegen seiner nachlassenden Sehfähigkeit aufgeben. Reiner Filla ist seit 2005 auf dem linken Auge blind und hat auf dem verbliebenen Auge ein Restsehvermögen von circa 30 Prozent .
- Seit November 2016 ist er beim dvbs beschäftigt und in erster Linie für die Bildungsbedarfsanalyse und die Gewinnung und Entwicklung entsprechender Weiterbildungsangebote zuständig.
Klaus Winger
- Klaus Winger ist Diplompädagoge und als Geschäftsführer des dvbs tätig.
- Seine ersten Berührungspunkte mit Blinden und Sehbehinderten hatte er nach dem Abitur, als er ein diakonisches Jahr im Internat der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg machte.
- Später arbeitete er u.a. am Frankfurter Flughafen, leitete ein Rehabilitationsunternehmen und war bis zu seinem 63. Lebensjahr in der Unternehmensberatung tätig.
- Die Suche nach neuen Schwerpunkten führte zum dvbs. Klaus Winger initiierte die Weiterbildungsplattform iBoB und wird das Projekt bis Ende 2019 leiten, bis er in den Ruhestand geht.